Franziskus und seine Brüder nannten sich die Minderen Brüder. Bis heute tragen wir Franziskaner diesen Namen: OFM – Ordo fratrum minorum.
So schreibt Franziskus in der nicht bullierten Regel 6,3: "Und keiner soll ‚Prior‘ genannt werden, sondern alle sollen schlechthin ‚Mindere Brüder‘ heissen." Bei der „minoritas“ geht es nicht um eine Selbstdemütigung oder asketische Übung, sondern um eine Ehrfrucht vor der Freiheit und Einzigartigkeit des Gegenübers. Das Mindersein stellt das Dienen in den Vordergrund: "Niemals dürfen wir uns danach sehen, über andere zu stehen, sondern müssen vielmehr um Gottes willen Knechte und Untergeben jeder menschlichen Kreatur sein." (2 Gl 9, 47) Der heilige Franziskus hat hier unseren Herrn Jesus Christus vor Augen, der den Jüngern die Füsse gewaschen hat (vgl. Joh 13, 1-17). Die Brüder sollen also nach Franz von Assisi in Freude und Fröhlichkeit durch die Welt gehen, als Diener und Untertanen aller, friedlich und von Herzen demütig. Diese Haltung schenkt immer wieder einen neuen Blick auf den Nächsten. Er ist kein Feind, den ich zu besiegen oder zu täuschen habe, um die eigenen Interessen zu retten, sondern ein Bruder oder Schwester, für den oder für die ich mich verantwortlich fühle. Der Wert und die Würde des Menschen liegt nicht in dem, was er gibt, sondern liegt in der einfachen Tatsache, dass es ihn gibt.
Der jüdische Ethiker Emmanuel Levinas bringt das in seiner Ethik des Anderen sehr schön zum Ausdruck:
Er sagt, der Mensch stehe immer schon in der Begegnung mit dem Anderen in der Verantwortung. Natürlich kann er sich den Bitten des Antlitzes des Anderen verweigern. Aber das Angerufen-Werden und die Aufforderung des anderen Antlitzes kann er nicht ungeschehen machen.
In diesem Zusammenhang zeigt sich das sehr schön bei Franziskus in seiner Begegnung mit dem Aussätzigen. Früher konnte er die Aussätzigen nicht anschauen, doch als er sich einmal auf eine Begegnung mit einem Aussätzigen einliess, so schreibt er in seinem Testament, wurde "was mir bitter vorkam, in Süssigkeit der Seele und des Leibes verwandelt… Der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erweisen." (Test 2-3)
Diese Ausrichtung des Dienens als Minderbruder versuchen wir an verschieden Orten unseres Alltags zu leben, in und ausserhalb der Gemeinschaft. Möge Maria, die Mutter Jesu, die auch Patronin des gesamten Franziskanerordens ist, uns helfen, diese demütige Haltung zu leben und immer wieder neu umzukehren, wenn wir die „minoritas“ nicht mehr leben. Für Franziskus hatte Maria eine grosse Bedeutung, weil in ihr Gott Mensch geworden ist und sie so nah bei Jesus war. Sie wurde zur Wohnung des heiligen Geistes. Deshalb sagt Franz von Assisi im Gruss an die selige Jungfrau Maria zu Beginn: "Sei gegrüsst heilige Herrin, heilige Königin, heilige Gottesmutter Maria, die du bist Jungfrau zur Kirche geworden und erwählt vom heiligsten Vater im Himmel, die Er geweiht hat mit Seinem heiligsten geliebten Sohn und dem Heiligen Geiste, dem Tröster, der war und ist, und alle Fülle der Gnade und jegliches Gute…" Das Beispiel ihres Glaubens und Handelns war für Franziskus prägend, besonders ihre Demut. Die Demut, die sich darin zeigt, das Geschenk des eigenen Lebens und der Berufung von Gott dankbar anzunehmen und seine Grösse zu preisen (vgl. Lk 1, 46-55). Maria hilft uns unsere Identität als Kinder Gottes zu entdecken, denn wenn Gott gross wird, können wir nicht klein von uns denken, müssen uns aber auch nicht selber gross machen, sondern können dienen.
Wir sehen dabei nicht nur den Wert und die Würde unserer Mitmenschen, sondern auch die Verantwortung gegenüber der ganzen Schöpfung Gottes. Franziskus sah Gottes Spuren überall in der Schöpfung. Da alles aus der Liebe und Güte Gottes erschaffen wurde, sah er auch eine tiefe Verbundenheit mit aller Kreatur. Verschiedene Erzählungen bezeugen diese Verbundenheit. So heisst es zum Beispiel in 1 Celano 81: „Er nannte alle Geschöpfe `Bruder` und erfasste in einer einzigartigen und für andere ungewohnten Weise mit dem scharfen Blick seines Herzens die Geheimnisse der Geschöpfe; war er doch schon zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes gelangt.“
Der Mensch hat nicht nur für das eigene Leben Verantwortung, sondern trägt auch für die gesamte Schöpfung Mitverantwortung. Er kann sich nicht einfach aus dieser Welt nehmen, sondern ist ein Teil dieser Schöpfung Gottes. Franziskus sieht die Mitwelt in unmittelbarem Bezug zu Gott. Dadurch stehen die Schöpfung und mit ihr die Geschöpfe nicht einfach als Gebrauchswert da. Der Mensch weiss sich in alles Geschaffene eingebunden, und als Mensch zeigt er sich bereit, Verantwortung für die Geschöpfe zu übernehmen. Das Zeugnis von Franziskus "zeigt uns", so Papst Franziskus, "dass eine ganzheitliche Ökologie eine Offenheit gegenüber Kategorien verlangt, die über die Sprache der Mathematik oder der Biologie hinausgehen und uns mit dem Eigentlichen des Menschen verbinden." (Enzyklika Laudato si 11)
Wir Brüder sehen uns daher auch als Teil dieser wunderbaren Schöpfung Gottes und stehen, wie jeder andere Mensch, auch in Verantwortung gegenüber dieser Welt. Wir danken Gott für die Schönheit der Welt und wollen diese auch immer wieder neu sehen, entdecken und positiv gestalten. Wie der heilige Franziskus entdecken wir immer wieder neu das Lob Gottes in seiner Schöpfung. Ein besonderer Ort dazu ist die Insel Werd, wo wir seit einigen Jahrzehnten leben dürfen. Kommt uns doch einmal besuchen!
In schwerer Krankheit und persönlicher Dunkelheit betete und lobte Franziskus unseren Schöpfer mit diesem wunderbaren Lied, das später als Sonnengesang bekannt wurde:
"1. Höchster, allmächtiger, guter Herr, dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen. Dir allein, Höchster, gebühren sie, und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.
2. Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne, welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest. Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz: Von dir, Höchster, ein Sinnbild.
3. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne; am Himmel hast du sie gebildet, klar und kostbar und schön.
4. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken und heiteres und jegliches Wetter, durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt
gibst.
5. Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser, gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
6. Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer, durch das du die Nacht erleuchtest; und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.
7. Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter.
8. Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen und Krankheit ertragen und Drangsal. Selig jene, die solches ertragen in Frieden, denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.
9 Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod; ihm kann kein Mensch lebend entrinnen. Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben.
Selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun.
10 Lobt und preist meinen Herrn und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut."
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