Ein Tag leben. Mein Dienst im Zürcher Palliativhospiz Lighthouse. Ein Bericht von Br. Paul Zahner OFM

Seit Januar 2018 bin ich katholischer Seelsorger im Zürcher Lighthouse, einem Palliativhospiz, das einer privaten Stiftung gehört. Ein Hospiz ist ein Ort, an dem Menschen mit nicht mehr heilbarer Krankheit, also palliative Bewohner und Bewohnerinnen bleiben und sein dürfen. Sie dürfen leben, an diesem Tag, HEUTE. Das ist das Wichtigste, das ich gelernt habe: LEBEN. Ein Palliativhospiz ist kein Sterbehospiz, sondern ein Lebens-hospiz.

Menschen dürfen an diesem Tag ganz und gar leben, sollen dieses Leben heute genießen und dafür dankbar werden können. Eigentlich ist das das Grundziel unseres Lebens schlechthin, dass wir aus Freude leben dürfen, da, wo wir im Moment stehen. Aber wer von uns lebt schon wirklich? Überleben wir nicht viele Tage, ohne ganz leben zu können? Wenn ein Mensch gegen Ende seines Lebens noch einmal ganz leben darf, dann ist das für ihn oder für sie das Geschenk schlechthin. Und dieses Geschenk versuchen wir im Palliativhospiz zu vermitteln. Das ist für mich das Geschenk Gottes schlechthin.

Eine Fülle von begleitenden Personen begleiten so die Menschen im Palliativhospiz Lighthouse: Pflegende, Ärztinnen, ein Koch, das Reinigungspersonal, die Hotellerie, eine Sozialarbeiterin, eine Psychologin, eine Kunsttherapeutin, eine Harfenistin, ein Hundebesuch, Freiwillige, eine Sekretärin und auch ein katholischer Seelsorger und eine reformierte Seelsorgerin. Die Seelsorge und damit die Suche nach dem Lebenssinn und nach Gott gehören wesentlich zur palliativen Pflege dazu.

Einmal in der Woche treffen sich Vertretende verschiedener Bereiche zu einem interdisziplinären Gespräch und bringen ihre Erfahrungen, Freuden und Sorgen für die Bewohnerinnen und Bewohner ein. Alle haben dabei Wichtiges zu sagen, um die einzelnen Situationen verstehen zu können und neue Wege mit einzelnen Personen suchen zu können. Als Seelsorger habe ich ebenso viel zu sagen, wie alle Anderen. Meine Erfahrungen sind wertvoll. Die Grenzen, die ich manchmal erleben muss, erleben die Anderen oft auch und gelegentlich finden wir Möglichkeiten sie überschreiten zu können oder sie auch einfach zu ertragen. Geduld ist das Wesen der Seelsorge schlechthin. Aber sie ist nicht immer einfach.

Wir besuchen – normalerweise aufgeteilt zwischen uns beiden Seelsorgern - alle Bewohnerinnen und Bewohner, ob katholisch, reformiert, orthodox, muslimisch, buddhistisch, jüdisch, konfessionslos, nicht religiös, oder wo auch immer sie stehen. Außer es wünscht jemand unseren Besuch ausdrücklich nicht. Wir reden über das Wetter, das Haus, persönliche Interessen, den eigenen Bezug zur Kirche, über das Gebet, die Zweifel, die Wut usw. Auch über Christus und die Begegnung mit ihm in der Kommunion, in einem Beichtgespräch, in der Krankensalbung… Ich lese einen Text vor oder bete still. Bringe einmal ein Bild mit. Oder stelle hundert Fragen über den Beruf, den Wohnort, ein Hobby, … Gelegentlich schweige ich auch einfach. Die Begegnungen sind offen, manchmal auch schwierig. Nicht mit allen ist es möglich zu sprechen. Wenige können nur noch schreiben oder können sich gar nicht mehr äußern. Manchmal hilft eine Berührung und oft ist eine gute Distanz wichtiger.

Gelegentlich sitze ich am Bett und trage schweigend und betend mit. Vaterunser und Rosenkranz sind mir selber dabei tiefe Gebetshilfen, die im inneren Rhythmus beten können, wo nichts mehr gesagt werden kann. Mein brauner Habit verweist viele Menschen auf Gott, auch wenn ich gar nichts dazusage. Und einige kennen doch auch das Franziskanische.

Auch kennen wir im Lighthouse nichtreligiöse Rituale, die uns helfen, Menschen loslassen zu können: ein Abschied des Teams am Bett eines Verstorbenen, ein etwa vierteljährliches Aufsteigen lassen von Ballonen für jeden Verschiedenen, Fachgespräche zu Themen und zu einzelnen Personen, eine Intervision und eine jährliche Gedenkfeier für die Verstorbenen. Die Belastungen im Umgang mit den Menschen auf ihrem letzten Weg sollen so gemeinsam getragen werden und das Team ist damit ein wertvoller Ort des begleitenden Getragenseins.

Seit vielen Jahren wird in der Schweiz intensiv die palliative Begleitung (Palliativ Care) von Menschen am Ende ihres Lebens gepflegt und auch politisch vorgeschrieben. Es ist wesentlich, dass wir als Kirche dies intensiv unterstützen. Palliativ Care ist eine äußerst wertvolle Sterbebegleitung, die aber nach wie vor viel zu wenig bekannt ist. Alle kennen in der Schweiz die Sterbehilfe von „Exit“, die einen organisierten Selbstmord als Ziel hat, und viel zu wenige kennen Palliativ Care als eine intensivste Stützung von lebenden Menschen auf ihrem Weg zum Tod hin. Sie zu fördern und Menschen zu begleiten ist mir selber eine große Freude geworden. Wer heute ganz zu leben vermag, kann morgen leicht sterben – an der Hand von Menschen und an der Hand Gottes.

 

Bild: Essenzen des Lebens (Copyright Zürcher Lighthouse) – das Bild einer Bewohnerin des Lighthouse: Künstlerin Brigitte El Kayal, Titel: Goldregen, Jahr 2018